Seit vier Tagen bin ich nun in Hong Kong. Mein Mann ist aus Deutschland gekommen und eine Freundin von uns. Wir verbringen die Tage mit viel Sightseeing, unsere Freundin ist zum ersten Mal in Hong Kong. Wir treffen aber auch Freunde und Bekannte von früher: ich bin von 1999 bis 2007 immer wieder geschäftlich in Hong Kong gewesen und habe beste Erinnerungen an diese Zeit. Ich habe es damals sehr genossen, im Grand Hyatt zu wohnen oder im Renaissance Hotel, morgens über die Escalators ins Büro zu gehen und abends mit den Kolleginnen und Kollegen in tollen Restaurants zu essen.
Ich bin sehr gespannt, Ellen wieder zu treffen. Sie war damals meine Kollegin in Hong Kong und ich habe sie als elegante Business Lady mit einer Vorliebe für schicke Klamotten und Designer Handtaschen in Erinnerung. Wir haben uns am Times Square zum Mittagessen verabredet. Ich erkenne sie von weitem, wir umarmen uns, und doch sehe ich gleich: sie hat sich verändert. Keine Designer Klamotten mehr und auch keine elegante Handtasche, stattdessen Jeans und T-Shirt. Beim Essen erzählt Ellen, dass sie vor einem Jahr ihren Arbeitgeber verlassen und ihren gut dotierten Job aufgegeben hat, zugunsten von mehr Quality Time mit ihrem Ehemann, der schwer erkrankt ist. Unweigerlich kommen wir auch auf das Thema der Proteste: wie ich in den nächsten Tagen bei mehreren Gesprächspartnern bemerken sollte, ist auch Ellen zunächst vorsichtig beim Anschneiden des Themas. Als ich ihr aber sage, dass wir das unterstützen und der deutsche Außenminister Joshua Wong empfangen hat, taut sie auf und erzählt, dass sie und ihr Ehemann auch mit protestiert haben. Sie erzählt eindrücklich, wie die Proteste abgelaufen sind und meint, dass sie es für die Jugendlichen tut, weil diese keine Zukunft haben. Sie selbst und ihr Ehemann haben für sich schon eine Entscheidung getroffen: sie werden in den nächsten zwei Jahren Hong Kong verlassen und nach Kanada übersiedeln. Ellen hat die kanadische Staatsangehörigkeit, neben dem Hong Kong Pass – ihre Freunde sagen: du bist privilegiert.
Ich verlasse dieses Mittagessen aufgewühlt, wünsche Ellen zum Abschied viel Glück für ihren Kampf: gegen die Krankheit und für die Demokratie.
Mein zweites Aha Erlebnis bezüglich der politischen Situation habe ich beim zweiten Besuch meiner Physiotherapeutin. Alice ist eine junge Mutter mir zwei kleinen Kindern: der Sohn ist sieben, die Tochter neun Jahre alt. Wir haben bei meinem ersten Termin das Thema der Proteste nur kurz angeschnitten: heute beim zweiten Mal kennen wir uns aber schon besser und haben Vertrauen zueinander. Ich spreche die Vorfälle des vergangenen Wochenendes an: die gewaltvollen Zerstörungen in Shopping Malls und U-Bahn Stationen. Alice findet die Gewalt nicht gut, verurteilt sie, aber sagt auch, dass sie kein Vertrauen mehr in die Polizei hat, weil diese teilweise willentlich hat Dinge eskalieren lassen und weil man sowieso mittlerweile nicht mehr wisse, wem man vertrauen könne. Sie und ihr Ehemann unterstützen ebenso die Proteste und: auch sie überlegen, auszuwandern! Für sie als junge Familie ist dieser Schritt ungleich schwieriger als für Ellen und ihren Mann, zumal Ellen nicht mehr auf eine Arbeitsstelle angewiesen ist, Alice aber schon. Beide, sie und ihr Ehemann, sind Physiotherapeuten, sprich sie haben einen Beruf, den man überall ausüben kann und der auch überall gefragt ist Ellen hat zudem eine sehr spezifische Qualifizierung, für die ebenfalls ein großer Bedarf besteht in allen Ländern, in denen es viele Krebserkrankungen gibt. Sie hat nach ihrem Studium vier Jahre in Singapur an einem Krankenhaus gearbeitet, also ist Singapur eine echte Option. Aber sie denken auch über Europa oder Australien nach. Vorerst aber, sagt Alice, wollen sie ihren Kindern eine gute Grundlage, sprich eine gute Bildung ermöglichen und ein eigenes Urteilsvermögen.
Wenn der kleine Sohn, der auf eine christliche Schule geht, fragt, warum im Fernsehen die Menschen aufeinander einschlagen, dann erklärt sie ihm ruhig und sachlich den Grund: die Regierung wollte ein Gesetz schnell durchpeitschen, von dem viele Menschen denken, dass man darüber besser noch mehr nachdenken sollte. Aber sie erklärt ihm auch, dass Gewalt keine gute Sache ist und man miteinander reden sollte, um eine Lösung zu finden. Miteinander reden, das hat auch die Hong Kong Regierungschefin Carrie Lam den Bürgern versprochen, nur passiert ist seither noch nichts. Und deshalb wird weiter protestiert werden, jedes Wochenende. „Fünf Forderungen, keine einzige weniger!“