Ich bin seit einigen Tagen wieder aus Hong Kong zurück, aber die Eindrücke meiner Reise lassen mich nicht los. Neben der politischen Dimension durch die Proteste der Demokratiebewegung hat mich auch auf anderen Gebieten der Kontrast zwischen dem immer rigideren System China und der noch immer freien Stadt Hong Kong sehr beschäftigt. Eines dieser Gebiete ist das Thema Religion und die Frage, wie viele und welche Menschen in China und Hong Kong einer Glaubensrichtung angehören.
In China gibt es fünf staatlich anerkannte Religionen: Buddhismus, Taoismus, Katholizismus, christlicher Protestantismus und Islam. Es ist aber nicht leicht, eine annähernd zutreffende Zahl von Religionsanhängern anzugeben. Nach den Statistiken der offiziellen Kirchen in China gab es im Jahr 2004 5 Mio. Katholiken und 16 Mio. Protestanten. Es gibt zehn nationale Minderheiten mit einem überwiegenden Anteil an Muslimen. Bei den offiziellen chinesischen Zahlen wird die Anzahl der Muslime als die Summe der Angehörigen dieser zehn nationalen Minderheiten bestimmt. Das sind etwa 20 Millionen. Es gibt keine offiziellen Angaben, wie viele Anhänger des Buddhismus oder des Taoismus es in China gibt. Der Grund liegt darin, dass beide Religionen keine strengen Bestimmungen und Zeremonien kennen, die ein Bekenntnis zum Buddhismus und Taoismus deutlich machen und sich Buddhismus und Taoismus zu keiner nationalen Minderheit zuordnen lassen.
Aufsehen erregte eine Studie der Professoren Tong Shijun und Liu Zhongyu der Shanghaier Lehreruniversität von 2005. Die Daten dieser Studie beruhten auf eigenen Umfragen und wurden in den staatlichen Medien veröffentlicht. Nach diesen Daten gibt es 150–200 Mio. Buddhisten, 25–35 Mio. Protestantische Christen, 11–18 Mio. Muslime, 8,5–13 Mio. Katholiken und 5,5 Mio. Daoisten. Die chinesische Volksreligion hat ungefähr 130 Mio. Anhänger. Diese Untersuchung kommt auf eine Gesamtzahl von ungefähr 300 Millionen Gläubigen anstelle der bisher offiziell angegebenen Anzahl von nur 100 Millionen.
Ich habe in einem früheren Blogbeitrag über einen christlichen Gottesdienst in Taian berichtet: https://www.ott-goebel-consulting.com/2015/10/28/auf-der-suche-nach-werten/. In den Medien lese ich immer wieder über steigende Zahlen der Festland Chinesen, die sich einer Religion zuwenden, insbesondere der buddhistischen Religion. Meine persönliche Wahrnehmung bestätigt das nicht. Wenn ich einen der buddhistischen Tempel in Wuhan besuche, treffe ich dort zwar Gläubige, die beten und Räucherstäbchen auf dem Altar entzünden. Es sind aber sehr wenige Menschen, kein Vergleich zu meinem Besuch 2017 in Taiwan oder meine Tempelbesuche in Hong Kong.
Wie sehen die Zahlen in Hong Kong aus? Nach einer offiziellen Statistik aus dem Jahr 2016 gibt es in Hong Kong über 1 Mio Buddhisten, über 1 Mio Taoisten, 480.000 Protestanten, 370.000 Katholiken, 300.000 Muslims, 100.000 Hindus, 12.000 Sikhs und weitere kleinere Communities. Das macht einen Unterschied in einer Stadt mit 7,39 Mio Einwohner, das sind immerhin rund 44% der Bewohner.
All das geht mir im Kopf herum, wenn ich an unsere Tempel Besuche in Hong Kong denke. Im Unterschied zu China haben wir in den buddhistischen und taoistischen Tempeln in Hong Kong und Macao viele Gläubige beten sehen. Am Eingang der Tempel kann man Rächerstäbchen kaufen sowie Opfergaben, um sie auf den Altar zu legen. Man kann Botschaften an die Angehörigen im Jenseits schreiben, die werden von einem Tempelmitarbeiter an Spiralen an der Decke aufgehängt. Und man kann Geld spenden, die großen Spendenboxen im Man Mo Temple in der Hollywood Road in Hong Kong wurden gerade abtransportiert, als wir dort zur Besichtigung waren.
Mich persönlich beruhigt die Erkenntnis, dass in Hong Kong die Religionszugehörigkeit, das Beten und der Besuch von Tempeln noch eine größere Rolle spielt. Es erinnert mich an meinen Ethikunterricht in Wuhan, als ich über Religiöse Werte sprach und meine Studierenden mich größtenteils verständnislos anschauten. Oder vielleicht doch nicht? Oft ist es so schwer, ihre Gedanken zu erraten. Und sprechen darüber tun sie nicht … Letztlich muss auch ich vorsichtig sein, der Unterricht in Business Ethik ist eine ständige Gradwanderung für mich. Ich darf mir nicht vorwerfen lassen, die Studenten mit fremden Ideologien zu beeinflussen.