Vergangenen Sonntag wollte ich den daoistischen Dai-Tempel im Stadtzentrum von Taian besichtigen. Auf dem Weg dorthin kam ich durch eine Straße, in der ein Gebäude meine Aufmerksamkeit weckte: ein europäisch aussehendes Backsteingebäude mit einem Kreuz auf dem Dach: eine christliche Kirche! Da ich bisher nur einmal in Beijing eine christliche Kirche in China erlebt habe, kam ich neugierig näher.
Einige ältere Leute standen am Eingang des Kirchhofs und auf meine Frage winkten sie mich freundlich näher. Was ich sah und hörte, war beeindruckend: eine übervolle Kirche, vollgepackt mit Menschen bis auf den letzten Platz! Das kenne ich aus Polen, dort sind die Kirchen am Sonntag voller Menschen, die noch im Eingangsbereich stehen, aber schließlich ist Polen ein sehr katholisches Land. Dagegen China, ein Staat, in dem die Religion eine nur untergeordnete Rolle spielt? Beim Rundgang um das Gebäude herum hörte ich, dass eine Frau predigte, sie sprach schnell und sehr energisch. Die Menschen in den Bankreihen lauschten konzentriert. In den vorderen seitlichen Reihen saßen junge Menschen in einem Gewand, das wie ein Ministrantengewand aussah. Auf der Hinterseite der Kirche führte eine Treppe in einen Kellerraum, dort gab es auf einer Leinwand eine Übertragung des Gottesdienstes für diejenigen, die oben keinen Platz mehr gefunden hatten.
Chinas Christen sind ein Phänomen. Ständig werden es mehr. Jedes Jahr steigt ihre Zahl um mindestens eine Million. Wie viele es heute genau sind, ist umstritten, Schätzungen reichen von 40 bis 130 Millionen. Die Wahrheit liegt wohl dazwischen. Doch zweifellos gehören sowohl die protestantische als auch die katholische Kirche in China zu den am schnellsten wachsenden Religionsgemeinschaften weltweit. „Unsere Kirche wächst stärker als die Wirtschaft“ wurde vor kurzem im Spiegel ein evangelischer Pfarrer in China zitiert. Dabei ist die Situation unübersichtlich. Nach Jahren der Unterdrückung in der Mao Zeit herrscht seit 1979 Religionsfreiheit für Daoismus, Buddhismus, Katholizismus, Protestantismus und Islam. Die Realität ist komplizierter, weil es neben den offiziell registrierten christlichen Kirchen sogenannte Hauskirchen gibt, die im Untergrund wirken.
Woher kommt der große Zulauf der christlichen Kirchen? In meinem Buch „Vom Drachen zum Panda“ habe ich unter anderem die China-Beraterin Terese Geulen interviewt, die von der Sinnsuche der Menschen in China berichtet. Nach Jahren des stürmischen Wachstums und des ungebremsten Materialismus sehnten sich die Menschen in der Volksrepublik nach bleibenden Werten, nach einer Spiritualität in ihrem Leben. Lesen Sie weiter im Kapitel „Die Lebenswelt der jungen Generation“ über Menschen zwischen Turbokapitalismus und Sinnsuche…