Bei diesem Aufenthalt habe ich mich noch intensiver als sonst mit den Träumen und Zielen der jungen Menschen auseinandergesetzt. Dabei meine ich nicht nur meine eigenen Studenten, sondern mehr noch diejenigen, die ich auf dem Campus kennenlerne. Sie sprechen mich an, in der Mensa oder am Eingangstor, wie Claude, dem ich schon am ersten Tag begegnete. Ich wollte zum Sportplatz auf dem Südcampus und er stand als Wachposten am Eingangstor des Campus. Er fragte, wohin ich wollte und ich dachte schon, oh je, Kontrolle! Er sprach mich aber nicht in seiner Eigenschaft als Wachmann an, sondern aus Interesse. Ich lernte, dass er selbst ein Absolvent der WBU ist, er hat International Business studiert. Sein Englisch ist sehr gut. Er erzählt, dass er nach dem Masterstudium nach Guangdong gegangen ist, zuerst als Sales Manager in Guangzhou und dann und in der Stadt Shenzhen in der IT-Branche gearbeitet hat. Das war ein sehr stressiger Job und er bekam Probleme mit beiden Ohren. Ich habe nicht ganz verstanden, ob es ein Hörsturz war, jedenfalls war ein operativer Eingriff nötig.
Er kam deshalb nach Wuhan zurück, wo das Leben ein wenig ruhiger und weniger hektisch verläuft als in Shenzhen. Er möchte wieder an die Uni, seinen Doktor machen, er möchte lernen, sagt er. Den Job am Eingangstor macht er, um ein bisschen Geld zu verdienen. Ich treffe Claude noch ein paarmal auf dem Campus, jedes Mal ruft er freudig meinen Namen. Ich bin beeindruckt von seiner Offenheit und von der Tatsache, dass er in jungen Jahren sein Leben bewusst ändert und sich an die veränderten gesundheitlichen Bedingungen anpasst, ohne sich darüber zu beklagen.
Ein junger Mann, der mich im letzten Jahr sehr beeindruckt hat durch seine Zielstrebigkeit ist Harry. Ihn habe ich über die mongolische Yogalehrerin kennengelernt, wir waren 2017 zusammen auf ihrem Geburtstag eingeladen. Harry arbeitete damals hart an seinem Englisch, denn sein Ziel war es, nach Australien zu gehen. Er hatte oft Kurse am Wochenende, wenn seine Kumpels frei hatten. Wir blieben über Wechat in Kontakt und im Sommer schrieb er mir, dass er eventuell nach Berlin käme, für ein Scholarship an der Humboldt Universität. Dann hörte ich länger nichts von ihm und als ich ihm kurz vor meiner Ankunft in Wuhan schrieb, antwortete er mir …. aus Sydney! Sei zwei Monaten sei er dort, das Leben sei großartig, er habe einen Job als Küchenhilfe in einem chinesischen Restaurant gefunden. Wir telefonieren länger an einem der Abende. Er ist happy, will bald weiterziehen in den Norden von Australien, vielleicht nach Darwin, danach an die Ostküste. Da unsere gemeinsame Freundin in Mongolien gerade heiratet, kommen wir auf dieses Thema. Er sagt, das sei noch nichts für ihn, er möchte reisen, die Welt kennenlernen. Er hat ein deutsches Mädchen kennengelernt in Sydney, die beiden wirken superharmonisch auf dem Foto, das er mir schickt. Ich drücke Harry die Daumen für seine weiteren Reisen und bin sicher, er wird mich irgendwann mal in Deutschland besuchen.
Zoe lerne ich in der Mensa kennen, sie ist diejenige, die mich ins Yoga mitgenommen hat. Zoe studiert Animation (übrigens wie Harry), sie arbeitet neben dem Studium in einer Firma, die Videos produziert. Sie zeigt mir Beispiele, die sie gemacht hat, animierte Videos und Cartoons und ich muss sagen, sie ist sehr talentiert. Wovon träumt Zoe? Ihr Traum ist die USA, sie will zu den Disney Studios und das kann ich gut verstehen. Wer in diesem Metier Talent hat, will sicherlich zu den Besten und Berühmtesten. Zoe möchte darüber hinaus einmal drei Kinder haben. Sie selbst ist mit zwei Geschwistern, einer älteren Schwester und einem jüngeren Bruder aufgewachsen, was ja sehr ungewöhnlich ist. Sie sagt, ihre Mutter, die Friseurin ist, habe viel Strafe dafür zahlen müssen. Zoe betrachtet die Situation in China realistisch und meint, bis sie ans Kinderkriegen denke, wären auch drei Kinder erlaubt. Tatsächlich habe ich in den letzten Tagen mehrere Artikel in Hongkonger Zeitungen darüber gelesen, dass eine weitere Liberalisierung der Geburtenregelung in China bevorstehen könnte. Die starke Überalterung der Gesellschaft ist hier der treibende Faktor.
Die Träume und die Zielstrebigkeit der jungen Leute, mit der sie ihre Träume versuchen zu realisieren, beeindruckt und berührt mich sehr. Ihre Offenheit mir, einer Fremden gegenüber, ist ein Geschenk für mich.